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Marie Jacobs berichtet erneut von ihrem Bolivien-Aufenthalt

Marie Jacobs ist von der Seite der Schülerin auf die der Lehrerin auf Zeit in Bolivien geweschselt. Sie darf in der Schule zusammen mit den Kindern arbeiten. Foto: Privat
Marie Jacobs ist von der Seite der Schülerin auf die der Lehrerin auf Zeit in Bolivien geweschselt. Sie darf in der Schule zusammen mit den Kindern arbeiten. Foto: Privat

Wedemark (jo). Seit fast einem halben Jahr ist nun Marie Jacobs aus Bissendorf an einer Schule in Bolivien. Sie hatte sich nach dem Abitur zu einem Freiwilligen Sozialem Jahr /(FSJ) entschieden. Schon einmal hat sie ihre Erlebnisse für das wedeMAGAZIN aufgeschrieben und kurz vor Weihnachten erreichte uns ein weiterer Bericht: „War ich das, die sich noch vor wenigen Monaten Abi-gestresst über den Campus W hetzte? War ich das, die noch vor wenigen Monaten behaupten konnte, wenigstens den ein oder anderen echt guten Lehrer und prima Nachhilfelehrerinnen erwischt zu haben. Ja, das war ich wohl. Und nun bin ich wieder in der Schule, in „meiner“ Schule in Bolivien. Allerdings bin ich nun die Lehrende. Obligatorisch beginnt die Woche hier mit dem Montag-Morgen-Apell, dort wird die neue Woche mit der Nationalhymne begrüßt, verschiedene Klassen führen vorher erarbeitete, kleine Theaterstücke auf. Obligatorisch kommen mindestens 40 Schüler zu spät, um dann vor verschlossener Türe zu warten, um die Zeremonie nicht zu stören. In guter Gesellschaft befinde ich mich an meinem ersten Arbeitstag gemeinsam mit meinem Mentor und drei Zahnärzten unter den Zuspätkommern. Den Zahnärzten, die für eine Woche an der Schule verbringen werden, nicht um prophylaktisch tätig zu sein, sondern um Schadensbegrenzung as good as possible zu betreiben, öffnet sich die Gelegenheit, Lolli-lutschende und Süßigkeiten-frühstückende kids zu beobachten. Leider haben alle Kinder sehr schlechte Zähne, und die Zahnärzte alle Hände voll zu tun. In einem kleinen Raum, der sonst als „Lehrerzimmer“ dient, wird ein Behandlungsstuhl aufgebaut und die Zahnärzte legen mit Bohrer und anderen „Werkzeugen“ los. Ich bin ja hier, um zu helfen, also vereinbare ich mit den Zahnärzten, ein Projekt zum Thema Zahnpflege zu starten. Dankend erhalte ich als Erstausrüstung für mein Vorhaben jede Menge Zahnbürsten. Aber zunächst einmal assistiere ich in einer Vorschulklasse. Viele der 30 Fünfjährigen scheinen verwahrlost, sie haben dreckige geschundene Füße, verschmutze Kleidung und Rucksäcke, die halb auseinander fallen, Sandalen und T-Shirt bei 10 Grad am Morgen. Am fatalsten zeigt sich mir die Armut im Hunger. Die Kinder sagen mir, sie haben Hunger. Ein Mädchen läuft über den Schulhof und sucht in alten Plastiktüten nach Essensresten. Umso mehr fällt auf, wie großzügig die Kleinen sind, das Wenige was sie haben, teilen sie gern. Immer bieten sie mir von ihren Süßigkeiten an. Ich bringe ihnen Seifenblasen, mit so viel Freude laufen sie hinter den luftigen zerbrechlichen Bällen her und lassen sie platzen. Die Kinder sind aufgeschlossen und anhänglich, sie freuen sich, wenn ich ihnen meine Aufmerksamkeit schenke. Letztens hat sich ein Junge verletzt und stand alleine weinend an der Wand. Da sich niemand gekümmert hat, bin ich zu dem Jungen, habe ihn auf den Arm genommen und ihn getröstet. Das haben die anderen Kinder mitbekommen und komischerweise haben sich prompt danach zwei weitere Kinder verletzt und sind weinend zu mir gekommen. Ich glaube, die Kinder mögen mich. Die fassen meine Haut an und sagen etwas, was ich zwar nicht verstehe, aber ich denke sie sagen, dass meine Haut so hell ist und fassen meine Haare an und sind erstaunt, dass sie so blond sind. Sie schauen lange und intensiv in meine Augen und machen mir Komplimente für meine Augen. Die Lehrerin, die ich begleite, schlägt die Kinder manchmal. Sie greift zum Lineal oder erhebt die Hand, so dass die Kinder vor der Autorität zurück zucken. Die Gewalt in der Schule ist für mich schwer hinzunehmen und sehr befremdlich. Wir lernen das Alphabet. Ich entwerfe Arbeitsblätter und male Bilder von Gegenständen, die mit dem neuen Buchstaben beginnen. Die Kinder stehen manchmal um mich rum und rufen begeistert „que linda!“ was so viel bedeutet wie „ oh wie toll!“. Mittlerweile schreibt man mir ein gewisses künstlerisches Talent zu, so dass ich das Arbeitsmaterial für alle vier Vorschulklassen vorbereite. Und wenn wir dann gemeinsam Buchstaben lernen, ganz im Tun versunken Jutebeutel mit Fingerfarben bemalen oder fröhlich englische Lieder singen, ist es auf einmal gar nicht mehr so viel anders, als es in meiner Vorschule in Deutschland war. Am Anfang war ich enttäuscht, nicht mehr bewirken zu können, und das möglichst schnell. Ob ich nun mit den Kindern am Tisch sitze und Bilder male oder nicht, ändert nicht viel. Aber mittlerweile glaube ich, dass ich ihnen einfach mit meiner Aufmerksamkeit und Stück Zuwendung und Wertschätzung geben kann, was ich nicht mehr unterschätzen möchte. Am 31. Oktober feiere ich meinen ersten Geburtstag weit weg von zu Hause, meinen neunzehnten! „Meine“ Vorschüler gratulieren mir jeder einzeln, ich werde beglückwünscht, mit Plastikrosen beschenkt und geherzt. Die Kinder bringen mir so viel Zuneigung entgegen. Da stört es mich auch gar nicht, dass der ein oder andere Floh überspringt und mich beißt. Eigenartig scheint mir zunächst, die Schüler der Sekundaria 6 in Englisch zu unterstützen, sie sind genauso alt wie ich. Aber wir haben ein gutes Arrangement getroffen. Während ich sie beim Englischlernen bestmöglich unterstütze, helfen sie mir mit den spanischen Vokabeln. Wir helfen uns gegenseitig, das schafft gleich ein gutes Verhältnis und Vertrauen. Differenzierte Lehrpläne für die eine vorgesehene Stunde Englisch pro Woche gibt es nicht, alle Schüler zwischen 13 und 18 lernen am selben Thema. Ich helfe besonders bei der Aussprache der englischen Wörter, da die Lehrer dies selbst oft nicht können. Ich korrigiere die Tests und helfe den Schülern bei Aufgaben in der Stillarbeit. Die Arbeit in der Schule macht mir wirklich sehr viel Spaß. Die kleinen Kinder werden immer mehr zu meinen Schützlingen und die älteren zu meinen Freunden. Auch mit den drei Lehrern, die ich unterstütze habe ich ein gutes Verhältnis, in den Pausen erzähle ich von meiner Kultur und sie von der bolivianischen. Auch das ist kultureller Austausch, wie ich finde. In Kürze beginne ich, nachmittags im Krankenhaus zu arbeiten. Darüber werde ich in meinem nächsten Artikel berichten. Obwohl es mir hier nicht gelingen will, in Weihnachtsstimmung zu kommen, weiß ich ja, dass es in Deutschland nun sicher kalt und weihnachtlich ist, dass die Weihnachtsmärkte öffnen und die Suche nach den Weihnachtsgeschenken beginnt. Unter marie.bolivien@gmail.com erreicht man mich, ich gebe sehr gern Auskunft und wünsche allen Lesern und Spendern ein gutes neues Jahr!“

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