Thema der Woche

„Überall waren Mäuse, Läuse und Flöhe”

Wedemark (sg). Dass es in Zeiten rechtspopulistischer Tabubrüche Schüler gibt, die einen Teil ihrer Freizeit dafür opfern, die Erinnerungskultur in der Wedemark durch ihre Projektarbeit zu unterstützen, mache ihm für die Zukunft wirklich Mut, bemerkte Bürgermeister Helge Zychlinski in seiner Eröffnungsrede. Sechs Schüler des Gymnasiums Mellendorf hatten im Rahmen der Geschichts AG Zeitzeugen- und Archivberichte aufbereitet, mit Einträgen in verschiedenen Dorfchroniken verglichen und verifiziert. Unterstützt wurden sie bei dieser wissenschaftlichen Art des Lernens, wie bereits die vergangenen Jahrgänge, von Martin Stöber, Dr. Sabine Paehr und Dr. Franz Rainer Enste. Die Ergebnisse ihrer Arbeit zum Thema „Die Geschichte der Wedemark von 1930-1950“, die auch die Grundlage für den 7. Band der gleichnamigen Bücherreihe bilden wird, präsentierten die Gymnasiasten Ende Februar vor etwa 130 Besuchern im vollbesetzten Saal des Bürgerhauses Bissendorf. Die Schüler präsentierten ihre Arbeitsergebnisse abwechselnd vor dem hoch konzentrierten Publikum. Sie berichteten über die verschiedenen Fluchtrouten nach dem Krieg, zu welcher Jahreszeit welche Probleme auftraten und welche Erfahrungen alle Flüchtenden miteinander teilten. Egal zu welcher Jahreszeit und auf welcher Route sie unterwegs waren, besonders waren den Zeitzeugen die großen hygienischen Probleme während der Flucht und die ständige Konfrontation mit dem Tod im Gedächtnis geblieben. Die Schüler brachten Beispiele von der Ausgrenzung der Flüchtlinge aufgrund ihrer Herkunft und ihres Glaubens. Der Bereich der Wedemark war bis dahin protestantisch geprägt, ein großer Teil der Flüchtlinge brachte aber den katholischen Glauben mit. Interkonfessionelle Ehen waren nicht gern gesehen, ausgegrenzt wurde auch bei der medizinischen Versorgung oder der Verteilung von Care Paketen. Erste Integrationsansätze gab es aber auch, so wurde zum Beispiel in den Schulen auch mal getauscht, Hausaufgaben gegen Butterbrot. Auf beeindruckende Weise zeigten die von den Schülern präsentierten Zahlen, welches Ausmaß die Flüchtlingssituation damals hatte. Am Beispiel Gailhof wurde gezeigt, dass auf 141 ortsansässige Gailhofer insgesamt 239 Flüchtlinge aus verschiedenen Gebieten kamen. Unter diesen waren 111 Vertriebene oder Ausgewiesene, also Menschen, die ihre Heimat nicht aus eigenem Antrieb verlassen hatten. So mag es nicht erstaunen, dass bei der Befragung der vier im Projekt befragten Zeitzeugen zum Thema Heimat drei auch heute noch ihren damaligen Herkunftsort als ihre eigentliche Heimat benennen. Mit den Worten „Es ist klar geworden, was es bedeutet, als Flüchtling in die Wedemark zu kommen – die Parallelen zu heute sind unverkennbar,“ bedankte sich Zychlinski bei den Schülern und leitete zu den Gastrednern über. Der Fotograf Manfred Zimmermann stellte seinen Entwurf für eine Gedenktafel zur Erinnerungskultur vor, die aus einer Stahltafel mit den herausgelaserten Namen der damaligen Opfer bestehen soll. „Wenn man diese Namen liest, schaut man zwangsläufig in den Himmel“, erklärt Zimmermann sein Kunstwerk. Der ideale Ort der Aufstellung sei zwischen dem Rathaus in Mellendorf, also dem Ort der politischen Entscheidungen und den Schulen, als dem Ort des Heranwachsens der Jungbürger, erläuterte der Künstler. Regionspräsident Hauke Jagau erklärte in seiner Rede die schrittweise Vorgehensweise der Nazis bei der Vorbereitung ihrer Diktatur. Erst seien die späteren Opfer ausgegrenzt und dadurch anonymisiert worden. Diese Anonymisierung, also das „Außer Sicht schaffen“ von Menschen und Einzelschicksalen bildete eine wichtige Grundlage für die späteren Grausamkeiten. „Die Frage – wann steht man eigentlich auf? – ist eine Frage, die auch aktuell immer wieder gestellt werden muss!“ versuchte Jagau die Problematik zu beschreiben, den richtigen Zeitpunkt für den entschiedenen Widerstand des Einzelnen gegen Populismus, Nationalismus und Ausgrenzung zu finden.Nachdem Martin Stöber weitere Bücher der Reihe vorgestellt hatte, hielt Franz Rainer Enste den Abschlussvortrag, in dem er die Schlussphase des Projektes vorstellte, dessen Ergebnisse in etwa zwölf Monaten vorgestellt werden sollen und zu der unter anderem eine umfassende Änderung des Internetauftritts der Gemeinde, ein Seminar der Leibniz Universität und ein weiteres Schulprojekt zählen.

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