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„Ostober”-Woche: 30 Jahre nach der Wiedervereinigung

Zeitzeugen berichten über ihre Erlebnisse und ihr Leben in der ehemaligen DDR

Wedemark (jo). Für die jüngere Generation ist die DDR ein Teil der Geschichte Deutschlands, den sie selbst nicht mehr aus eigener Erfahrung kennen. Für Josephine Keßling und Tim Gerber ist sie Teil ihres eigenen Lebens, in dem sie Kindheit und Jugend in dem sozialistischen Staat ganz direkt erlebt haben. Beide waren jetzt zur Auftakt- veranstaltung der Gemeinde Wedemark aus Anlass des 30. Jahrestages der Wiedervereinigung als Zeitzeugen zu Gast und erzählten, wie sie die Bespitzelung durch die Stasi und andere Organe der DDR erlebt haben – weil sie Ausreiseanträge gestellt hatten oder gegen das System rebellierten. Unter dem Ti- tel „Ostober” haben Mitarbeiter des Mehrgenerationenhauses zusammen mit dem stellvertretenden Pressesprecher Magnus Wurm ein Wochenprogramm zum Thema Wiedervereinigung zusammengestellt, mit verschiedenen Angeboten, das noch bis zum 10. Oktober läuft. Während der gesamten Woche informiert eine Ausstellung im Foyer des Bürgerhauses unter dem Titel „Der Kommunismus in seinem Zeitalter”. Am 7. Oktober steht ab 17.30 Uhr eine kulinarische Zeitreise im Mehr- generationenhaus auf dem Programm, am 8. Oktober wird auf dem Wochenmarkt in Bissendorf Soljanka zum Verzehr angeboten, am gleichen Tag geht es von 18 bis 21 Uhr im Mehrgenerationenhaus um das Thema „Unter Männern – Schwul in der DDR und BRD”. Am 9. Oktober läuft um 18 Uhr der Film „Feind- berührung” mit anschließendem Gespräch mit einem ehemaligen IM der Stasi. Am 10. Oktober, ebenfalls um 18 Uhr, schließlich endet die Reihe mit Erlebnissen von Wedemärkern mit der DDR. Zum Auftakt der „Ostobe”r- Woche begrüßte Jessica Borgas die beiden Zeitzeugen und erinnerte mit dem bekannten Zitat des ehemaligen Staatschefs Walter Ulbricht aus dem Jahr 1961 an die Unglaubwürdigkeit von oberster Stelle: „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu bauen.” Dass es anders kam, gehört heute zur deutschen Ge- schichte. Bürgermeister Helge Zychlinski, der an diesem Abend nur kurz zu Gast sein konnte, bezeichnete den 30. Jahrestag der Wiedervereinigung als einen großen Geschichtsmoment: „Es macht mich wütend, wenn heute darüber diskutiert wird, was damals hätte besser oder anders gemacht werden können. Mit dem Blick zurück lassen sich solche Diskussionen einfach führen.” Die Menschen in Ostdeutschland hätten mit ihren Montagsdemos die Wende in Gang und am Ende ihr eigenes Regime zu Fall gebracht: „Und das alles auf friedliche Weise.” In ihrer Einführung erinnerte Jessica Borgas daran, dass man in der DDR auf vieles habe warten müssen: „Auf das Auto, auf Bananen – und auf die Ausreise. Dies hätten auch die beiden Zeitzeugen erfahren: Josephine Keßling wurde 1962 in der DDR geboren und wuchs in einer christlichen Familie auf, die der katholischen Kirche angehörte: „Das war schon eine echte Doppelbelastung“, erzählte sie, denn allein schon Christ zu sein und dann auch noch katholisch, sei in der DDR problematisch gewesen. Damit habe festgestanden, dass ihr der Zugang zum Gymnasium verwehrt war und sie nicht studieren durfte. Im Alter von etwa 14 Jahren sei die Familie nach Halle umgezogen, dort habe sie Kontakt zur evangelischen Jun- gen Gemeinde Halle-Neustadt bekommen: „Dort bin ich dann aktiv geworden und natürlich ist das schnell aufgefallen und ich wurde bespitzelt.” Aber die Erfahrungen schon aus der Kindheit hätten gelehrt, wie man da- mit umging: „Später gab es Zeiten, da bin ich ganz offen bespitzelt worden. Zwischendurch war meine Wohnung nicht nur verwanzt, sie wurde auch regelmäßig während meiner Abwesen-heit durchsucht.” Aber auch das sei natürlich von ihr nicht unbe- merkt geblieben, an kleinsten Veränderungen habe sie diese Tatsache immer wieder feststellen können. Schließlich hätten schon die Kinder in der DDR früh gelernt, dass sie zweispurig haben fahren müssen. Einmal gab es die Wahrheit im häuslichen Umfeld und einmal die Wahrheit nach außen: „Aber ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich jemals Angst gehabt hätte, im Gegenteil, Ungerechtigkeiten haben mich viel mehr wütend gemacht. Und mit diesem Nicht-Angst haben, ist es mir tatsächlich gelungen, so- gar die Stasi zu verunsichern.” 1981 hat sie schließlich den ersten Ausreiseantrag in den Westen gestellt, ihm sollten noch weitere folgen. Gemeinsam mit einer Gruppe anderer Ausreise- williger wurde sie im August 1983 aus der DDR ausgewiesen: „Und danach ging die Spitzelei im Westen weiter.” Wie sich später herausstellte, gehörte dieser Spitzel zu ihrem engeren Freundeskreis. Er war sogar soweit gegangen, sich der Gruppe der Ausreisewilligen anzuschließen und mit allen zusammen in den Westen zu gehen. Sie fasste schließlich Fuß im Westen, heiratete und gründete eine Familie und hat einige Wochen nach dem Mauerfall zum ersten Mal wieder ihre Mutter zusammen mit der Familie wiedersehen können. Tim Gerber hatte andere Motive, die zu dem Wunsch führten, die DDR zu verlassen: „Ich wollte einfach ein freies Leben und auch die Möglichkeit, es selbst zu gestalten. Auch für ihn war das Abitur nicht möglich, weil auch er aus einem christlichen Elternhaus kam. Anstelle eines Studiums machte er eine Ausbildung zum Beleuchter beim Theater: „Das war eigentlich für mich eine ganz gute Alternative. Eine Nische, die sich fast alle, die mit Kunst oder Kirche zu tun hatten, gesucht haben”, erzählte er. Gleichzeitig seien diese Menschen der Staatssicherheit immer ein Dorn im Auge gewe- sen. Er habe auf legalem Weg die DDR verlassen wollen und deshalb einen Ausreiseantrag gestellt. Prompt sei er dann zum Gespräch beordert worden und man habe ihm unter anderem verdeutlicht, dass er dann seine Mutter nie wieder sehen würde: „Ich habe geantwortet, dass dies genau der Grund dafür sei, auszureisen. Ich will nicht in einem Land leben, in dem Söhne ihre Mütter und Töchter ihre Väter nicht sehen dürfen.” Dem ersten Antrag folgten weitere, zwischenzeitlich habe er aufgeben wollen, die Einberufung zur Nationalen Volksarmee mit der Verweigerung des Dienstes an der Waffe beantwortet: „Ich wurde dann als Bausoldat verpflichtet und hatte den Plan, durch eine Scheinehe mit einer Westdeutschen bessere Chancen zu bekommen.” Die Ehe ist nie zustande gekommen, weil die junge Frau zuletzt einen Rückzieher gemacht hatte. „Und dann kam überraschend der Befehl, mich auszuweisen, innerhalb von vier Wochen saß ich im Zug nach Frankfurt mit zwei Koffern, einem Rucksack und einer Gitarre.” Merkwürdig sei dabei gewesen, dass man bei dieser Reise anders als sonst keinen Hausschlüssel mehr gehabt habe. Heute sei er froh in einem Land zu leben, in dem die Zeit in der DDR 30 Jahre hinter seinem Rücken liege. Spannend und authentisch waren beide Geschichten – und sie haben neugierig auf mehr gemacht. Die Gelegenheit dazu besteht für Interessierte noch bei den Folgeveranstaltungen der „Ostober“-Woche. Aufgrund der Teilnahmebegrenzung und der geltenden Hy- gienebestimmungen ist eine Anmeldung unter der Telefonnum- mer 97 44 511 oder freiwilligen- agentur@wedemark.de erfor- derlich.

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